BLAU

BLAU

Sollte ich doch Corona als Überschrift schreiben?
Nein, nicht dieses alles dominierende Wort über den alles dominierenden Zustand mit den alles dominierenden Richtlinien und Vorschriften…
Blau. Ich will Blau schreiben.

Dafür muss ich nicht einmal überlegen. Diese außergewöhnliche Zeit wird für mich immer mit Blau verbunden sein. Ich muss zugeben, ich bin in der wahrlich privilegierten Lage, gesund und soweit gefahrlos leben zu können. Ich kann in meinem Garten mit weitem Blick hinaus und nach oben schauen.

Ich muss mich nicht wochenlang mit dem Ausschnitt begnügen, den mir ein Fenster bietet, ein blaues Eck zwischen Häuserfronten und Dächern, – mein Himmel spannt sich weit über Berge und die Hügelkette. Noch nie in meinem Leben war der Himmel so wunderschön, noch nie habe ich so tiefes, intensives, makelloses Blau über unseren Dächern, dem blühenden Apfelbaum und den ersten grünen Spitzen der Laubbäume in überbordender Natur gesehen. Vor allem dieses seit Wochen makellose Himmelsblau zieht mich in seinen Bann.

Und die Stille.
Ich kenne tiefe Stille nur von den Bergen, abgeschieden irgendwo, weit und breit keine Straße. Ja, dort gibt es Stille, die zwar immer wieder einmündet in ein entferntes Dröhnen, 10 km höher, an das man sich im Alltag schon längst gewöhnt hat. Jetzt ist es still. Oft stundenlang.

Dieses makellose stille Blau erweckt den Anschein einer wunderbaren, intakten Natur in heiliger Ruhe. Wie paradox! Das gibt es nur, weil die Welt aus den Fugen geraten ist. Für so viele! Ich weiß von Slums und Hygienevorschriften, die nur lächerlich sein können in diesem Gewusel von Menschen, Märkten, Müll. Ich weiß vom Abstandhalten in Zeltstädten, die Stoffwand an Stoffwand kaum Regen und Wind trotzen und schon gar nicht dem Virus mittendrin in all der Flüchtlingsnot. Ich weiß von Autobahnen und Landstraßen, die von Wanderarbeiterfamilien für wochenlange Tagesmärsche in ein Heimatland genützt werden, ohne gesicherte Versorgung, begleitet von Hunger und Durst und dem schwarzen Himmel der Nacht. Ich weiß von Tiefkühllastern, in denen jene gestapelt werden, die den Lebenskampf verloren haben und denen keine würdige Verabschiedung gewidmet werden kann. Ich weiß von den Alten, die wartend am Fenster sitzen und nicht verstehen, dass der Tag vergeht und wieder niemand gekommen ist. Ich weiß von Kindern und Jugendlichen, die mit Freunden spielen möchten, die Welt erkunden und das Leben spüren wollen, jedoch in den vier Wänden sitzen und gefüttert werden mit dem Leben aus digitalen Kanälen.
Und darüber dieses makellose stille Blau,- es passt nicht dazu.   

6 Wochen lang, – langsam werden die Verordnungen bei uns gelockert, doch noch gibt es keine Entwarnung. Keiner weiß heute, wie lange ein distanziertes Leben als nötig erachtet wird. Es ist jedenfalls für soziale Wesen – und das sind wir als Spezies nun einmal – kein Zustand, an den man sich gewöhnen möchte.

Vielleicht belächeln wir unser Abstandhalten, die Masken und Schutzschilde, die Desinfektionswut, die verordnete und freiwillige Isolation irgendwann.
Doch vielleicht ist Corona nur ein düsterer Vorbote für Möglichkeiten, die durch die Globalisierung in jeden Winkel der letztlich so kleinen Erde kriechen werden.

Möglicherweise lernen wir auch daraus. Diese Sichtweise ist mir die allerliebste.
Ich vertraue darauf, dass wir lernfähig sind. Ich bin überzeugt, dass wir die Richtung ändern müssen, eine Welt der Zahlen – weiter, höher, schneller, mehr – möge von einer Welt der Bilder abgelöst werden: Wie werden wir alle satt, physisch und psychisch, ohne die Erde auszubeuten und auf Kosten anderer oder gar der noch gar nicht Geborenen zu leben? Wie befrieden wir unser Leben und unsere Bedürfnisse regionaler und gerechter?

Wir alle müssen uns und unser Vorstellungsvermögen entwickeln und lernen, dass „Weniger und Anders“ auf lange Sicht ein Fortschritt sein wird.

,